Die Deutschen haben gewählt und die Resultate zeigen ein Land, das entlang der berüchtigten Mauer geteilt ist, die schon früher die Freien von den Unfreien getrennt hatte.
Nach 35 Jahren sehen wir in der politischen Landschaft die Bruchlinien genau dort, wo während des Kalten Kriegs Deutschland bereits getrennt war, inklusive der Enklave von Berlin.
Wie ich schon mal erwähnt habe, bekunden die Deutschen erhebliche Mühe, die Mauern in ihren Köpfen und Herzen niederzureissen. Die Wahlen vom vergangenen Sonntag zeigen mir, was mir meine Beobachtungen und zahlreichen Gespräche mit Ost- und Westdeutschen schon länger offenbart haben: Deutschland ist noch lange kein geeintes Land.
Vielmehr zeigen die Wahlresultate einen vertieften Graben zwischen den Erwartungen der einst Stimmlosen im Osten und den defensiven Kräften im Westen, denen natürlich am Erhalt ihrer Lebensqualität gelegen ist.
Die Frage, die sich im Hintergrund gross auftut und an die Türen sensibler Beobachter klopft, ist nochmals eine ganz alte: Was sind die Konsequenzen der gegenwärtigen Umstände für Deutschland und Europa, ja für die ganze Welt? Wenn Deutschland eine demokratische föderale Republik bleiben soll, kann das Land dem sich abzeichnenden Sturm standhalten?
Der Sturm braut sich zusammen. Wir müssen nur genau hinschauen.
Die Karte oben zeigt, dass die einst stolze SPD nur noch rumpfmässig in ihren städtischen Hochburgen im Norden punkten kann (rot). Nutzniesser der Verschiebung der Wählergunst sind vorerst die Parteien der Union (schwarz) im Westen und die AfD im Osten (blau). Der Trend ist nicht neu, tritt aber jetzt nach einem guten Jahrzehnt so klar zu Tage wie nie zuvor. Diese Dynamik ist auch nicht einfach zu bremsen und könnte sich sogar beschleunigen, wie wir unten noch sehen werden.
Da gibt es nichts zu feiern. Das politische Zentrum hat insgesamt nur knapp genügend Stimmen bekommen, um die nächste Regierung zu bilden. Friedrich Merz (CDU) wird dies mit einer geschwächten SPD tun müssen. Die Sozialdemokraten kommen nunmehr auf bloss 16.4%, ein historisches Tief. Die Zusammenarbeit mit der AfD hat Merz ausgeschlossen, obwohl die Partei ein historisches Rekordergebnis von 20.8% bundesweit erzielt hat. Die Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Vorsprung der CDU dahinschmelzen wird, genauso wie er schon in Sachsen zum Beispiel innerhalb von nur drei Jahren weg war. Nun ist der ganze Osten, also die ganze ehemalige DDR ausser Berlin, eine AfD Hochburg.
Das Zentrum wurde nicht gestärkt, wie viele Beobachter reflexartig behauptet haben, sondern geschwächt. Der CDU «Sieg» ist ein Pyrrhussieg, wenn die Parteien mit einem autoritären Hang nicht nur im Osten, sondern auch im Westen an Unterstützung zulegen. Zusammen haben die Parteien, die einem demokratiefeindlichen Publikum zuspielen, bundesweit bereits 34.5% der Stimmen auf sich vereint (AfD, die Linke und BSW). Die Kreml-freundlichen Leute machen nun schon mindestens ein Drittel der deutschen Bevölkerung aus, was einem gewaltigen Zuwachs von den 15% gegenüber vor drei Jahren ausmacht.
Der Anteil der autoritären Parteien in Ostdeutschland ist noch beunruhigender und erfolgt genau entlang der Linie, wo früher die Mauer das Land entzweite. Im Osten kann Putin zusammengerechnet auf eine komfortable Mehrheit von deutlich über der 50%-Marke zählen, vor allem wenn wir die BSW, die Bewegung der eitlen Magd Wagenknecht, dazurechnen, die zum Glück für ganz Deutschland den Einzug in den Bundestag knapp verpasst hat. Nun, wenn wir die 4.9% des BSW zu den mindestens 38% der AfD und den mindestens 12% der Linken in den jeweiligen Ländern dazurechnen, dann erhalten wir ein wahrhaft düsteres Bild.
Es ist allerdings wichtig, die Dynamik und nicht lediglich die aktuellen Zahlen zu analysieren. Ganz offensichtlich scheint einmal mehr die Unsitte des Geschreis und Gepolters im Bundestag zu wirken. Die Linke war bereits für gehirntot erklärt worden, als eine junge Bundestagsabgeordnete Beleidigungen vom Rednerpult schrie, kräftig untermalt mit eindeutiger Körpersprache wie zu Berlins schlimmsten Zeiten, und diesen Unsinn als Weisheit portiert auch noch auf den digitalen Medien postete.
Junge Menschen scheinen von der verkürzten Logik und der widerlichen Ausdrucksweise besonders angetan. Unter den 18- bis 24-Jährigen kam die Linke auf 27% und wenn wir diesen Trend in die Zukunft extrapolieren, dann müssten in ganz Europa die Alarmglocken schrill läuten. Aber das tun sich nicht.
Die Frage stellt sich nämlich, wie Deutschland politisch in zwei, drei oder vier Jahren dastehen wird, wenn spätestens wieder gewählt wird. So wie die politische Mitte vor unseren Augen erodiert, können wir keine optimistische Prognose wagen. Merz und seine CDU mögen etwas wirksamer regieren als die unglückliche Crew um den müden Olaf Scholz, aber es gibt bislang keine Hinweise, dass sich die Teilung Deutschland in den nächsten Jahren auflöst. Vielmehr gibt es Anzeichen, dass sie sich verstärken wird.
Schauen wir uns doch nochmals die Karte an. Zwei Dinge müssen wir festhalten.
Erster Punkt: Landkarten machen Dinge ersichtlich, die wir sonst leicht übersehen könnten. Sie zeigen die gesellschaftliche Kohäsion einer Region oder eines Landes. Wir haben eine ähnlich eindrückliche Karte nach den Wahlen in den USA gesehen. Die Geografie der politischen Präferenzen unterstreichen die Hartnäckigkeit, mit der sich territorialgebundene Gruppierungen halten, die eine gemeinsame Erfahrung innerhalb eines Raums und einer Zeitspanne gemacht haben. Karten helfen uns, die Trägheit der Geschichte zu verstehen.
Zweiter Punkt: Deutschland hat es nicht geschafft, die weiter gefächerte Bedeutung der Wiedervereinigung in sozialgeschichtlicher Hinsicht zu verarbeiten. Das Augenmerk vor 35 Jahren war eindeutig auf die wirtschaftliche und administrative Integration des Ostens in die erfolgreiche westdeutsche Story gerichtet, die jene den Amerikanern zu verdanken hatten. Die ex-DDR Bürger durften zwar ihre Stasiunterlagen sichten, aber es gab keine breit angelegte Diskreditierung der brutalen sozialistischen Diktatur und schon gar keine «Umerziehung» wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als Entnazifizierung Programm war. Die Verwicklung der westlichen Linken in diesem Trauerspiel ermöglichte eine schändliche Akkommodation alter Apparatschiks in den neuen Strukturen und ermöglichte so auf vereinfachtem Weg die Infiltration breiter Bevölkerungsteile durch die erstarkte russische Propaganda zulasten einer demokratischen Entwicklung und zugunsten des wiederbelebten russischen Imperialismus.
Wir können ruhig festhalten, dass der deutsche Hang zur Errichtung von Mauern nicht gleich wieder verschwinden wird. So wiederhole ich nochmals, dass die Deutschen ihre Zäune lieben und zwar in allerlei Formen und Facetten. Es scheint nun sogar, dass Mauern in der deutschen Psyche eine noch viel grössere Rolle spielen, als ich es vermutet habe. Eine Studie der Friedrich-Schiller-Universität Jena zeigt auf eindrückliche Weise, wie es «in den deutschen Köpfen eine zweite Mauer» gibt, die auf den römischen Limes zurückgeht. Gemäss den Forschern, die immerhin 70'000 Menschen befragt und nach den gängigen Methoden der Psychologie untersucht haben, gibt es 2000 Jahre alte markante regionale Unterschiede. In den Worten der Autoren:
In Deutschland gab es unterschiedliche Sozialisationen und Befindlichkeiten dies- und jenseits der Berliner Mauer bzw. der innerdeutschen Grenze, die bis heute fortwirken. Eine aktuelle internationale Studie, an der Wissenschaftler der Universität Jena beteiligt sind, zeigt nun, wie stark selbst eine fast zweitausend Jahre zurückliegende räumliche Trennung die Psychologie in der Gegenwart prägen kann: Der Limes bildet eine andere „psychologische Grenze“, das Deutschland teilt. Der Bereich südlich des römischen Grenzwalls weist laut Studienergebnissen höhere Werte in Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung und damit verbundenen Persönlichkeitsmerkmalen (Big Five) auf als der nördliche Bereich. Überraschend klar zeichnet sich in diesen heutigen psychologischen Landkarten Deutschlands eine Grenze entlang des ehemaligen Limes ab.
Die Studie untermauert meine schon länger gemachte Aussage, dass die Bruchlinien in Deutschland Jahrhunderte alt sind und zwangsläufig die gesellschaftspolitischen Vorstellungen prägen. Es kann kein Zufall sein, dass die CDU dort am stärksten ist, wo einst die Römer das Sagen hatten. Noch ist es einfach ein Zufall, dass die Wirtschaftskraft Deutschland ebenso dort konzentriert ist.
Obwohl die Studie die politischen Aussagen vermeidet, macht sie ebenso deutlich, dass die politische Landschaft die kulturellen Gegebenheiten abbilden muss. Wir können nicht ignorieren, dass die politischen Kräfte sich an tief verwurzelten kulturellen Vorzügen messen müssen. Die römische Zivilisation hat das Wohlergehen der Menschen in den Vordergrund gestellt, aber auch Infrastruktur, Märkte und ein Rechtssystem, das gesellschaftlichen Zusammenhalt begünstigte. Zudem vermieden die Römer Chaos und Willkür. Gewiss, die Schreihälse im Bundestag, die Besonnenheit zu schnell über Bord werfen und keine Zeit für Reflektion aufwenden, wären den Römern Barbaren gewesen. Vielleicht sollten wir unter diesem Gesichtspunkt nochmals Tacitus lesen, aber dieses Mal bitte etwas kritischer
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Wenn die CDU nicht ein ähnliches Schicksal erleiden will wie eben die SPD, dann muss das politische Zentrum eine glaubwürdige Identität artikulieren und umsetzen. Diese muss griffige Aussagen zu den Schlüsselkonzepten der Demokratie und der Freiheit machen, um regionale Unterschiede — die Mauer in den Köpfen —zu überwinden. Das Lavieren mag es nicht mehr leiden; die mutige Unterstützung von Freiheit und Demokratie überall muss zum zentralen Credo werden.
Folgende Schritte sind nötig:
1. Dänemark und Polen (u.a.) machen vor, wie die Sprache der Freiheit klingt. Die Länder, die schon mal unter dem deutschen Stiefel litten, wissen, was Freiheit ist. Die dänische Regierungschefin, Mette Frederiksen, hat es unlängst in einer Deutlichkeit und mit einer Qualität gesagt, die wir in Deutschland noch vermissen. Von den zehn Parteien, die im dänischen Parlament vertreten sind, unterstützen alle (alle!) die Ukraine in ihrem Kampf für Freiheit. Der Bundestag ist hingegen ein peinliches Bild des Defätismus und der Ehrerbietung für Diktaturen – einstigen und heutigen.
2. Friedrich Merz und sein Team müssen das linke Politspektrum zur Verantwortung ziehen. Sie haben eine wirksame Aussenpolitik wiederholt torpediert. Die Komplizenschaft der linken Kräfte (inklusive SPD) in der Steigbügelhaltung zugunsten Russlands im Überfall auf die Ukraine muss erkannt und genannt werden, was es ist: Feigheit und Heuchelei.
3. Der schändliche Rückzug der USA aus dem Lager der demokratischen Nationen ist eine Chance für Deutschland und Europa. Für das Protokoll: Wir reden hier vom Montag, dem 24. Februar 2025, dem dritten Jahrestag der Vollinvasion Russlands in der Ukraine, als die USA in der Uno zum ersten Mal überhaupt gegen Demokratie und für Diktatur stimmten. Die USA haben sich in einer dramatischen Kehrtwende geweigert, Russland als den Aggressor zu bezeichnen. Das ist ein noch nie dagewesener Affront der USA gegenüber einem Staat, der um sein Überleben kämpft und es ist eine Demütigung aller, die sich für Freiheit und Demokratie einsetzen. Deutschland muss hier klar Farbe bekennen und aufhören, in der Angelegenheit eine unangemessene und peinliche Bescheidenheit zu pflegen. Es braucht jetzt Mut!
Es geht um viel, um nicht zu sagen: Alles! Wenn es Deutschland nicht schafft, sich ein klares Profil für Freiheit und Demokratie zu geben, dann wird es nicht nur gefährlich für Europa, sondern Deutschland könnte in wenigen Jahren als unabhängiges Land aufhören zu existieren. Damit das nicht passiert, müssen die Menschen in Deutschland jetzt realisieren, dass die autoritären Kräfte seit dem Zweiten Weltkrieg nie wieder so stark gewesen sind wie heute. Alle müssen entsprechend handeln. Da ist die ganze Zivilgesellschaft gefordert, vom Elternhaus, über Lehrer, Lehrmeister, Journalisten, Politiker, Akademiker, Vorstände und schlicht jeder Bürger, jede Bürgerin – sie alle müssen sich im Klaren sein, dass die autoritäre Welle in Deutschland nur bedeuten kann, dass das Land entlang der Bruchlinien, die wir bestens kennen, wieder zerfallen wird.
Man muss nicht Historiker sein, um sich zu vergegenwärtigen, dass Deutschland wiederholt Spielball fremder Mächte war. Genau das beobachten wir jetzt nochmal und wenn nicht genügend Menschen dagegenhalten, dann wird es ganz schnell wieder passieren. Es reicht der Blick in die USA, um lapidar festzuhalten, dass aus dem Garanten für Frieden und Demokratie in kürzester Zeit ein Beschützer von Diktatoren, Schurken und Kriegsverbrechern wurde, der überdies bereit ist, die demokratischen Staaten unter den Zug zu werfen.
Ich glaube nicht, dass die meisten Deutschen verstanden haben, was «Zeitenwende» ganz konkret bedeutet. Vielleicht ist das so, weil sie mitten drin stecken und vor lauter Bäumen den Wald nicht erkennen können.
Die Mauern in den Köpfen und Herzen sind noch da. Es ist leider vielen Kräften an den politischen Rändern wichtiger, ihre einfältigen ideologischen Parolen an Hauswände zu schmieren, statt sich um die Gesundheit des Staatswesens zu kümmern. Ihnen sind die Mauern, hintern denen sie sich verstecken können, viel lieber als der beschwerlichere Weg auf den politischen Gegner zu und das Eingeständnis, dass sie nicht im Besitz der ganzen Wahrheit sind – ja sein können und deshalb auf diejenigen auf der anderen Seite des politischen Spektrums angewiesen sind, weil jene die Gedanken haben, die sie selber nicht denken können, die aber unabdingbar sind, um das Gemeinwesen als Ganzes voranzubringen.
Das politische Zentrum hingegen muss aufhören, sich von den Kräften links und rechts gängeln zu lassen. Die Debatten um Migration, die Wirtschaft, die soziale Sicherheit und viele andere Dinge sind wichtig, aber sie dürfen nicht vom gemeinsamen Anliegen ablenken, das ganz oben stehen muss: Freiheit und Demokratie. Mit anderen Worten: Hört auf über die Sitzordnung auf der Titanic zu streiten und kümmert euch darum, dass das Schiff gar nicht erst auf den Eisberg zusteuert!
Die Mitte muss von den Kräften links und rechts bedingungslos verlangen, dass sie für Freiheit und Demokratie einstehen. Sie muss mit dieser Botschaft direkt zu den Wählern gehen und ihnen klar machen, dass es genau die Werte sind, die Mauern überwinden und das Land allen Unkenrufen zum Trotz zusammenhalten.
Die USA ziehen sich gerade von Europa zurück, so viel ist deutlich geworden. Das erlaubt Deutschland, Freiheit und Demokratie als Werte jenseits amerikanischer Interessen zu sehen und für sie einzustehen, in Wort und Tat. Die USA sind in der öffentlichen Debatte diesbezüglich nicht mehr relevant (sorry) und das könnte eine grosse Chance sein in einem Land, in dem der Antiamerikanismus in breiten Kreisen seit sehr langer Zeit salonfähig gewesen ist. Plötzlich ist der Bösewicht weg! Ami go home; wer hätte es gedacht, dass sie eines Tages dem Graffiti-Aufruf folgen. Jetzt kann und muss Deutschland selbständig Farbe bekennen.
Es ist höchste Zeit, Freiheit und Demokratie als urdeutsche Werte zu erkennen, die überdies die Kraft haben, alte und gegenwärtige Mauern zu überwinden.
Starker Tobak mit steiler These bis zum Römischen Reich und zurück. Aber ja, so ist es. Zur Mauer in den Köpfen gibt es übrigens ein krasses Interview mit Wolf Biermann in der Zeit N° 35 vom 15. August 2024, das mir dabei hilft, das Ganze etwas entspannter zu sehen. Seine Biographie "Warte nicht auf bessre Zeiten" differenziert noch genauer. Meine Hoffnung ist, dass sich das alles langfristig auspendeln wird. Meine Befürchtung ist, dass es bis dahin schlimmer kommen wird, bevor es besser wird. Noch sind wir beim Einpendeln mit mal mehr und mal weniger heftigen Links- und Rechts-Ausschlägen ...