Eine Turnhalle voller Trottel
Vor 80 Jahren ging der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Für Redner wie Eugen Drewermann sind die Helden von damals die echten Bösen. Das Publikum verkauft er für dumm.
Zugegeben, ich hatte mich auf den vielversprechenden Vortrag von Eugen Drewermann über «Frieden aus Sicht der Bergpredigt» gefreut. Seit Jahrzehnten hatte ich auf eine Gelegenheit gewartet, dem bekannten deutschen Theologen zu begegnen. Endlich, im April 2023, war es soweit. Ich war etwas früher am Veranstaltungsort, einer Turnhalle in einer ländlichen Gemeinde eine knappe halbe Stunde südlich von Basel. Dort hatte ich etwas Zeit, die Titel auf dem Büchertisch zur Kenntnis zu nehmen. Wider Erwarten gab es kaum theologische Literatur, keines etwa über die Bergpredigt, auch nicht über Friedensstifter, sondern neben den zu erwartenden Schriften von Drewermann einige Bücher von Autoren, die eher den Verschwörungstheoretikern zugeordnet werden, allesamt russlandfreundlich gestimmt, und ich musste mich schon fragen, ob ich da an einen Anlass unter falscher Etikette gelockt worden war.
Auf diese enttäuschende Bücherauslage folgte aber die viel grössere Enttäuschung des Vortrags selbst. Von meinem Platz links in der ersten Reihe konnte ich den Redner gut beobachten und noch besser hören. Der heute fast 85-jährige Drewermann gilt als ausgezeichneter Rhetoriker, auch wenn er als Theologe höchst umstritten ist. Seiner Sprachkunst ist es auch zu verdanken, dass er das Publikum aus einem grösseren Umkreis in Turnhallen lockt und in den Bann zieht. Er versteht es, mit populär zugänglichen Elementen der Tiefenpsychologie eine auch dem Laien verständliche Exegese vorzutragen, die mal auf C.G. Jung oder Erich Fromm baut.
All das wusste ich und erhoffte mir von ihm dennoch intellektuelle und gar spirituelle Impulse zum Thema Bergpredigt und Friede. Die gab es aber nicht. Stattdessen gab es eine überstündige Hasspredigt auf die Amerikaner.
Die ganze Zeit musste ich mich fragen: Wie ist das verträglich, dieser ganze Hass auf die Amerikaner und das Postulat der Bergpredigt? Stimmen hier Form und Inhalt noch überein? Merkt denn Herr Drewermann nicht, dass er mit seinem Hass auf die U.S.A. sich selber widerspricht? Ist es ihm nicht klar, dass er sein kritisch denkendes Publikum verliert, wenn er Frieden sagt, aber Hass predigt? Oder geht er gar davon aus, dass wir es nicht merken? Nimmt er an, dass wir alle Trottel sind, eingelullt in seine geschmeidigen Worthülsen?
Ich gebe zu, es hat mich geärgert. Hier kommt ein Mann, der in der friedlichen BRD aufwachsen durfte, der den Übergang von der Nazidiktatur zur Demokratie als Kind noch miterlebt hat und nun seine Befreier aufs Übelste beschimpft. Ja was hätte er denn gewollt? Weiter Swastika in der Turnhalle? Russische Gulag? Folterkammern? Ja was will den Herr Drewermann? Ist ihm die Redefreiheit, die er offensichtlich geniesst und von der er lebt, bloss Zufall und schliesslich gar nichts wert?
Nun, angefangen hat Eugen Drewermann mit seiner fachlichen Kernkompetenz. Ganz wörtlich begann er bei Adam und Eva, erzählte von der bösen Schlange, deren Mythos und Symbolik sowie die Angst des Menschen vor dem Bösen. Dann kamen Cain und Abel, der Brudermord also, und schliesslich erstaunlich wenig über die Bergpredigt, kaum der Rede wert eigentlich, wenn nicht das Programm es anders hätte vermuten lassen. Geblieben ist mir, dass das Wort «Sanftmut» aus der Bergpredigt nicht gerade eine Vokabel für den Pausenplatz sei. Ja warum denn nicht? Enttäuschung abermals.
Stattdessen hat Herr Professor Eugen Drewermann, Theologe, ausführlich über U.S. Waffensysteme referiert, gleichsam eines Generals a.D., der einem nostalgischen Publikum nochmals die Gerätschaften seiner Karriere vor Augen führt. Was haben wir da nicht alles vernommen! Von einem Paul Tibbets, Pilot der Enola Gay, haben wir gehört, von den B 17, den B 29, den B 52, den F 35, den Pershings und von vielen mehr, Typen und Arten, dass es einen Laien beeindrucken sollte. Senior Drewermann hat vorgeführt wie Soldaten auf dem Kasernenhof lernen zu töten, töten, töten – mit der entschlossenen, schnellen Armbewegung hat der Referent den Rekruten nachgeahmt, der dem Feind das Bajonett zwischen die Rippen stösst.
Was hat das mit Frieden zu tun? Nichts! Es soll uns nur den Grauen des Krieges vor Augen führen. Doch das gelingt ihm in der Turnhalle schlecht, wo seit Generation junge Menschen körperliche Fitness trainieren und nicht wenige davon später in Uniform dienen.
Die Amerikaner wollen den Frieden nicht! Sagt der Referent aus dem Norden Deutschlands, einem Gebiet, das von den Alliierten zu den erstbefreiten gehörte im Frühjahr 1945.
Nichts Gutes lässt er an allen U.S. Präsidenten seiner Lebzeit, als ob er sie persönlich gekannt hätte und uns Unbekanntes verraten würde. Ja, die U.S.A. und die böse NATO sind die Kriegstreiber, gemäss Theologe Drewermann, der sich nun einem gemischten Publikum von Fans und Neugierigen als heller Geopolitiker andient.
Kein Wort verliert der Deutsche über die 420'000 U.S. Soldaten, die meisten bloss ein Viertel so alt wie er heute, die damals zwischen Normandie und Elbe ihr Leben gaben, damit die Kinder des Krieges wie Eugen Drewermann in Sicherheit aufwachsen durften und heute gefahrlos ihre Meinung kundtun dürfen.
Stattdessen hören wir den Referenten die Russen loben. Die Russen seien ein friedliebendesVolk, sagt er, und beruft sich auf seinen Vater, der sie damals im gegenüberliegenden Schützengraben hatte singen hören. Genau, diese Story kenne ich, von anderen Vätern, die auch dort waren an der Ostfront und gesehen haben, wie am Vorabend des Infanterieangriffs die Tankwagen der Russen an die Front fuhren, gefüllt mit billigem Wodka, und wie die Soldaten den mutmachenden Alkohol aus ihren Helmen geschlürft haben, bevor sie, teilweise ohne Waffen, gegen die deutschen Maschinengewehre 42 (bekannt als Hitlersägen) rennen mussten. Wer singt, ist friedlich, Herr Drewermann? Vielleicht ist er auch nur betrunken oder traurig oder beides?
Dann hat der Theologe noch Tolstoi bemüht. Da siehe man doch, dass die Russen grossartige pazifistische Schriftsteller hervorgebracht hätten und deshalb friedliebend seien. Mit einer schon fast skurrilen Selbstverständlichkeit geht der Referent davon aus, dass seine Zuhörer kaum Kenntnisse über Tolstoi haben und ihnen die Reverenz an den grossen Schriftsteller als Beweis für das friedliche Russland genügen müsste. Ohne Scham verschweigt Drewermann, dass Tolstoi sich zeitlebens gegen den russischen Imperialismus stellte und den Krieg des Zaren Nikolaus II gegen Japan (1904/05) aufs Schärfste verurteilte. Dann hätte Drewermann vielleicht auch kurz erwähnen müssen, dass der für Russland verlorene Krieg durch die Vermittlung von Theodore Roosevelt, Präsident der U.S.A. beendet wurde und dieser dafür als erster Amerikaner den Friedensnobelpreis bekam (1906).
Aber eben. Fröhlich ging der Theologe davon aus, dass die Turnhalle voller Trottel keine Ahnung von Geschichte und Zusammenhängen hat. Russische Freunde sagen mir, dass Tolstoi unter Putin längst im Exil wäre.
Zusammenhänge sind dem Referenten grundsätzlich nicht wichtig. Er glaubt ein naives Publikum zu schocken, wenn er in die Menge brüllt: Die Amerikaner geben 800 Milliarden Dollar für ihr Militär aus! Mehr als alle anderen! Na und? Mal abgesehen davon, dass die Zahl schon 2023 nicht stimmte – es waren schon 916 Milliarden Dollar oder 3,4% des BIP und im Jahr 2024 gar 997 Milliarden Dollar. Der Zuhörer, der sich nicht als Trottel abstempeln lassen will, weiss aber, dass die Russen gemessen an ihrer Kaufkraft und vor allem an der Leistung ihrer Volkswirtschaft deutlich mehr ausgeben. Im Jahr 2023 gaben die Russen schon 5,86 % des BIP für Rüstung aus und damit übrigens seit Jahren deutlich mehr als die Amerikaner gemessen an ihrer wirtschaftlichen Leistung. Heute knechtet der Kreml seine eigene Bevölkerung bereits mit 40% des gesamten Staatshaushaltes für Militärausgaben, etwa dreimal so viel wie die Ukraine! Damit erreichen die Ausgaben Putins für seinen sinnlosen Krieg gegen den Nachbarn irre 8% des BIP – deutlich mehr als alle anderen industrialisierten Nationen!
Während die Militärs mit Rekordsummen bedient werden, wird der Etat für Soziales im friedliebenden Russland zusammengestrichen. Schulen, Spitäler, Strassen und Wasserleitungen (sofern vorhanden) sind in einem maroden Zustand, vor allem ausserhalb der grossen Städte, etwa dort, woher die ahnungslosen jungen Soldaten kommen, die der Kreml im Donbass verheizt.
Auch in den U.S.A. ist nicht alles zum Besten. So viel wissen wir. Der Imperialismus kostet überall und immer viel Geld, nicht nur in Russland. Und er kostet Menschenleben. Herr Drewermann zählt die Gräueltaten der Amerikaner so inbrünstig auf, wie er die Waffensysteme zur Erbauung der Zuhörer, die eigentlich über die Bergpredigt hören wollen, heruntergeleiert hat.
Über den russischen Imperialismus verliert er kein Wort. Wir hätten gerne auch davon etwas gelernt, wenn er den Pfad seiner Kompetenz in Theologie schon mal verlässt. Wie war das mit den russischen Kriegen in Afghanistan, Tschetschenien, Syrien, Mali, Sudan? Oder viel früher: Die Eroberung des Ostens, die wiederholte Teilung Polens, die Kriege gegen die Ukraine, der Krieg gegen Japan, der Molotow-Ribbentrop-Pakt? Kennt der Referent auch russisches Kriegsgerät? Wir, die vermeintlichen Trottel, kennen es: Die Udaw; AK-103, 12,15; PKP, Kord, 2A65, 2S43, TOS-2, 9K720 «Iskander» (v.a. gegen ukrainische Zivilisten); T-54. 55, 62, 64, 72, 80, 90; MiG-31, Su-34, Tu-160….
Vor 80 Jahren ging der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Stalin wusste, dass er den Sieg über Nazideutschland den Amerikanern verdankte. Allein von Juni 1941 bis September 1941 erreichten 17,5 Mio. Tonnen Güter, gebracht in 2’770 Transportschiffen, Russland, darunter 375'000 unverzichtbare Studebaker LKW.
Gestern, am 8. Mai, haben in Westeuropa Gottesdienste zum Gedenken an das Ende des Krieges und seiner Opfer stattgefunden. Heute, am 9. Mai, gibt es in Drewermanns friedliebenden Russland Militärparaden.
Irgendwo in einer Turnhalle versammelt der Theologe Eugen Drewermann wieder Zuhörer, die er veräppeln kann, die Frieden hören wollen, aber Hass gesät bekommen. Der Vortrag, den ich gehört habe, hielt er in der Schweiz. Gerne hätte ich etwas über Schweizer Friedensstifter gehört, etwa über Niklaus von Flüh, der im Stanser Verkommnis von 1481 den Bürgerkrieg abwendete (und damit möglicherweise die Eidgenossenschaft vor dem Untergang bewahrte), oder über Henry Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes, oder Leonhard Ragaz, den Theologen und Pazifisten, oder Pierre Cérésole, der mutige Pazifist während zweier Kriege, oder Max Daetwyler, der mit seiner grossen, weissen Fahne vielen von uns noch in guter Erinnerung ist.
All das wäre so viel erbaulicher und dem Frieden dienender gewesen als die Hasstiraden auf die Amerikaner und v.a. die gleichzeitige Huldigung der Russen. Das hat alles nicht zusammengepasst. Form und Inhalt des Vortrags klafften jämmerlich auseinander, Aussage und Credo bissen sich unversöhnlich, Geste und Duktus des Redners -- ein Verrat an der intellektuellen Redlichkeit.
Schade. Ich hatte mehr erwartet und ging nach Jahrzehnten der Erwartung enttäuscht nach Hause. Der polemisch bestückte Büchertisch hätte mir Warnung sein sollen.